Seit drei Jahrzehnten warnen Pflegefachkräfte vor einem Pflegenotstand. Die Politik hat diese Warnungen konsequent "überhört". Es kam, wie es kommen musste: Insbesondere die pflegenden Angehörigen müssen die Versäumnisse nun ausbaden. Beratung und Hilfe zu Hause gibt es viel zu wenig, Heimplätze werden immer knapper. Angehörige werden gar nicht oder viel zu spät entlastet. Renate Pühringer, PLUS-Gemeinderätin und selbst Diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin, berichtet aus ihrem Alltag und fordert rasche Entlastung zehntausender pflegender Angehörige in Linz und Oberösterreich.
Seit über 30 Jahren arbeite ich in der Pflege. Ich habe umfangreiche medizinisch-pflegerische Erfahrungen gesammelt in Ambulanzen und Bettenstationen. Jetzt arbeite ich in der Krankenhaushygiene. In der Kontinenz- und Stomaberatung, Flüchtlingsbetreuung, beim Ehrenamt “Betreutes Reisen” und beim Wünsche-Erfüllen für schwerstkranke Menschen habe ich mich engagiert und in der stationären Langzeitpflege jahrelang an Demenz erkrankten Bewohner:innen betreut. Warum erzähle ich das? Nun, ich bin seit längerem (zum zweite Mal) selbst pflegende Angehörige - und was ich da erlebe, ist beispiellos!
Angehörige - die “billigsten Pflegekräfte”
801.000 pflegende Angehörige gibt es in Österreich. Sie sind der “größte Pflegedienst” Österreichs. Vor allem aber sind die pflegenden Angehörigen auch die “billigsten Pflegekräfte”. Denn Pflegegeld wird nicht oder zu spät zuerkannt und wenn doch, reicht es in den meisten Fällen nicht aus, um die zugekaufte Pflege und Betreuung zu bezahlen. Von finanzieller Anerkennung der Arbeit pflegender Angehöriger kann sowieso keine Rede sein. Nur wer wenig verdient, hat Anspruch auf Hilfsgelder. Und die, die ihren Beruf für die Pflege eines Angehörigen aufgeben. Dann aber sollte man schon selbst gut vorgesorgt haben, denn sonst rutscht man in die Armutsfalle - spätestens dann, wenn man in Pension geht.
Kurzzeitpflege - teuer und ohnehin schwer zu kriegen
Wer Entlastung von der Pflege braucht oder wegen einer geplanten Operation oder Reha eine Kurzzeitpflege für den Angehörigen buchen möchte, muss schon sehr, sehr früh dran sein. Denn in vielen Seniorenheimen wird diese Kurzzeitpflege wegen Personalmangel gar nicht mehr angeboten. Die Wartezeit beträgt wegen der raren Plätze mehrere Monate.
Vielfach wird der pflegebedürftige Mensch dann in einem (zu) weit entfernten Pflegeheim untergebracht, wohin die - meist älteren - Freunde und Bekannten gar nicht mehr auf Besuch kommen können. Die sozialen Kontakte des Pflegebedürftigen brechen ab. Abgesehen davon kostet ein Monat Kurzzeitpflege ca. EUR 4000,--. Das ist sicherlich ein angemessenes Entgelt für eine professionelle Betreuung im Seniorenheim. Nur: Welcher pflegebedürftige Mensch kann sich das leisten? In der Realität sind es wiederum die pflegenden Angehörigen, die dafür aufkommen müssen.
Erschöpfte Angehörige
Die angesprochene Kurzzeitpflege wird immer wieder als “Lösung” angeboten, wenn pflegende Angehörige über alle Maßen erschöpft sind. Wer sich die hohen Kosten für die Kurzzeitpflege nicht leisten kann oder anmerkt, ohnehin schon Pflege zu leisten und für Therapien und Medikamente zu zahlen, und deshalb nicht auch noch für die Kurzzeitpflege aufkommen möchte oder kann, bekommt dann schon mal zu hören: “Na, so schlimm kann die Belastung durch die Pflege ja gar nicht sein, wenn Sie die EUR 4000,-- nicht zahlen wollen!”.
Der “Wahnsinn” hat im Pflegesystem aber eh System: Sogar mit einer klaren Demenz-Diagnose kommt es zu Ablehnungen von Pflegegeld–Anträgen. Vorgesehen ist, dass auch und besonders Demenzerkrankungen bei der Bemessung von Pflegegeldstufen berücksichtigt werden. Nur bildet sich das in der Realität nicht ab.
Warum das so ist? Nun: Die erste Untersuchung zur Pflegegeldeinstufung wird von Ärztinnen und Ärzten vorgenommen - die von Pflege jedoch nicht viel wissen. Dass bei der Einstufung nicht ausschließlich Fachkräfte aus der Pflege zum Einsatz kommen, ist nicht nachvollziehbar, praxisfern und eigentlich skandalös. Denn das führt leider dazu, dass der Pflegebedarf sehr oft falsch (nämlich zu niedrig) eingeschätzt wird.
Und dann, wenn das Pflegegeld nicht bzw. nicht in der richtigen Höhe gewährt wird? Die meisten Angehörigen haben nicht die Kraft, gegen die Fehlentscheidungen vorzugehen. Wer sich aber trotzdem wehren möchte, sollte sich bei Vereinen und Anwält:innen melden, die die Pflegegeldverfahren kostenfrei durchführen.
Wer genauer hinsieht oder selbst zur pflegenden Angehörigen wird, merkt: Hier läuft einiges falsch. Es sollte - wenn im Bereich der Pflegegeld-Einstufung ordentlich gearbeitet würde - doch nicht die Notwendigkeit bestehen, so zahlreich Klage zu führen! Wie viele Klagen in Bezug auf Pflegegeld es in Österreich pro Jahr gibt, wie viele dieser Klagen abgelehnt werden und wie oft dann doch Pflegegeld bzw. eine Erhöhung zuerkannt wird - darüber gibt es keine offiziellen Daten oder Transparenz. Darum beschleicht einen der Verdacht, dass die Ablehnungen des Pflegegeldes bzw. der richtigen Höhe sowie die langen Wartezeiten auf neue Begutachtungen der öffentlichen Hand schlicht und einfach “sparen” helfen. Denn selbst wenn vor Gericht ein Vergleich geschlossen wird, wird das Pflegegeld möglicherweise nicht rückwirkend vom Tag der Antragstellung ausgezahlt, sondern erst zehn Monate später. Inzwischen hat der Pflegebedürftige selbst oder auch seine Angehörigen die Kosten für die Pflege getragen und so Kosten für die öffentlichen Hand übernommen.
“Bitte warten!”
Aber auch wer genug Geld hat, kann sich Pflegekräfte oder Plätze in Tages-Betreuungseinrichtungen nicht herbeizaubern. Denn für die Tagesbetreuung gilt dasselbe wie für die Kurzzeitpflege: Es gibt zu wenig Pflegepersonal, um ausreichend Tagesbetreuung anzubieten. Wer das Glück hat, einen Platz im Tagesheim zu ergattern, gleichzeitig aber das Pech hat, etwas weiter weg zu wohnen, muss auch selbst für den Transport aufkommen. Wissen Sie, was es kostet, einen Menschen, der nicht selbst gehen kann und auf Hilfe angewiesen ist, bringen und holen zu lassen? Das ist für die meisten - so wie die Gebühr einer Tagesbetreuung - nicht leistbar.
Da pflegende Angehörige aber häufig auch arbeiten oder Besorgungen außer Haus zu erledigen haben, ist die zu pflegende Person oft allein zu Hause. Mobile Betreuung und Pflege gibt es nämlich auch zu wenig. Die Pflegekräfte bzw. Haushaltshilfen im mobilen Dienst können außerdem nie genau festlegen, wann sie den pflegebedürftigen Mensch aufsuchen. Vier Stunden “Schwankungsbreite” können vorkommen. Pflegende Angehörige haben also kaum Entspannung und können nur schwer planen.
Aufsuchende Beratung und Schulung
Trotz drei Jahrzehnten Berufserfahrung komme ich bei der Pflege meiner demenzkranken Mutter an die Grenzen meiner Belastbarkeit. Wie muss es da Menschen gehen, die keinen professionellen Hintergrund haben und plötzlich pflegen müssen? Viele Erkrankungen erfordern komplexes Wissen um Medikation und Symptome, um die Betroffenen fachgerecht zu betreuen und Schaden vom Pflegebedürftigen abzuwenden. Insbesondere der Anteil (zusätzlich zu anderen Erkrankungen) an Demenz erkrankten Menschen wird rasant höher. Mit Vergesslichkeit, Schimpfen ohne Grund, Verfolgungsgedanken, Halluzinationen und auch sexuellen und gewalttätigen Übergriffen der Demenzkranken konfrontiert zu sein, erfordert Beratung für die Angehörigen. Diese gibt es in den meisten Orten nicht. Und wenn es sie gibt, kann der pflegende Angehörige nur schwer von zu Hause weg, weil die Erkrankten dann alleine zu Hause wären.
Aufsuchende Beratung wäre nicht nur im Fall von Demenzerkrankungen wichtig, sondern auch für Menschen mit Sturzneigung oder Schluckbeschwerden oder Mobilitätseinschränkungen. Im Grunde also eigentlich immer. So ist es wichtig, die Gegebenheiten in der eigenen Wohnung oder im eigenen Haus in die Planung von Pflegeleistungen mit einzubeziehen. Eine geschulte Pflegefachkraft erkennt, dass der Teppich im Vorraum die Stolperfalle ist, wegen der es immer wieder zu Stürzen kommt. Die Planung der Anschaffung von Hilfsmitteln zum Duschen oder zum erleichterten Aufstehen von der Toilette muss vor Ort vorgenommen werden. Und die Pflegefachkraft kann bei einem Hausbesuch auch abschätzen, ob die Versorgung mit Medikamenten auch so passiert, wie dies ärztlich vorgegeben ist und wenn nicht, Hilfe organisieren.
Manche Gemeinden bieten Schulungen für Angehörige an. Diese Schulungen sind aber nicht individuell auf die Situation zu Hause angepasst. Wer keine Möglichkeit hat, Schulungen zu besuchen, wird eben am Telefon beraten. “Es tut mir leid, ich verstehe Sie, ich kann Ihnen nicht helfen!” hört man dann oft. Oder auch einfach nur gut Zureden: “Ein bisschen Gottvertrauen müssen Sie schon haben!” oder “Trauen Sie Ihrer Mutter doch was zu!” wenn man von der Gefahrenlage zu Hause spricht, weil die Mutter immer öfter das Essen beim Aufwärmen am Herd vergisst: Das macht sprachlos. Viele Angehörige versuchen deshalb nicht mehr Hilfe zu holen, denn solche Aussagen zermürben.
Mit dem von der EU finanzierten Pilotprojekt “Community Nurses” wurde der richtige Weg zur Beratung Angehöriger bzw. Pflegebedürftiger zu Hause beschritten. Doch es es braucht viele dieser Pflegefachkräfte und in jeder Gemeinde! Sie koordinieren Hilfsangebote, wissen über finanzielle Hilfen Bescheid und beraten zu Hause. Damit ermöglichen sie ein möglichst langes Leben zu Hause, entlasten Angehörige von den überbordenden bürokratischen Hürden und entlasten auch das gesamte System. Die Community Nurses müssen schnell ausgerollt werden, über Linz, Oberösterreich und ganz Österreich.
Young Carer
Eine Gruppe von pflegenden Angehörigen kommt in der öffentlichen Diskussion über die Pflegekrise praktisch gar nicht vor: Kinder und Jugendliche, die ihre Angehörigen pflegen. Sie tun dies im Verborgenen. Sie sprechen nicht über die Belastungen, denen sie ausgesetzt sind, weil sie diese für “normal” halten. Sie sind damit aufgewachsen. Oder sie haben Angst und empfinden Scham. Und holen sich deswegen keine Hilfe. 47000 dieser Young Carer gibt es in Österreich. Rund 1000 in Linz. Andere europäische Länder und Städte sind im Aufspüren und Unterstützen dieser jungen Menschen um vieles weiter als Österreich und Linz.
Denn die Folgen des Alleingelassen-Werdens sind dramatisch: Diese Kinder und Jugendlichen leiden oft an Depressionen und Schlafstörungen. Sie schlafen schlecht und können in der Schule dem Unterricht nicht folgen. Den Verdruss in der Schule wollen sie vermeiden und verlassen die Schule ohne Abschlüsse oder brechen ihre Ausbildung ab. Sie geraten in eine Abwärtsspirale von finanziellen Engpässen und sozialer Ausgegrenztheit, obwohl sie einen so wichtigen Teil zum Gelingen der Gesellschaft beitragen.
Angehörige unkompliziert unterstützen
Ja, es gibt eine “Pflegereform”. Ja, es gibt die eine oder andere Initiative, die Sinn macht. Solange aber der Gesundheitsbereich (insbesondere die Krankenhäuser) und die Pflege nicht gemeinsam gedacht und gesteuert werden, verpuffen die “Pflegemilliarden” in ineffizienten Strukturen. Während der niedergelassene Bereich zusammenbricht und die Krankenhäuser die Überlastung nicht mehr kompensieren können (und das auch nicht sollen), steigt der Druck auf die Angehörigen ins Unermessliche. Und trotzdem hat die Politik noch nicht erkannt, dass es genau hier anzusetzen gilt. Anstatt die pflegenden Angehörigen und deren Arbeit zu würdigen und diese so gut es geht und so unkompliziert es geht zu unterstützen, werden diese gegängelt und "ausgepresst".
Wenn diese direkte Unterstützung gelingen soll, braucht es einen nationalen Kraftakt.
Care-Stellplätze
In der Realität scheint es übrigens, als sei die Pflegekrise in vielen Gemeinden noch gar nicht im Bewusstsein der politisch Verantwortlichen angekommen. Wie sonst ist es zu erklären, dass die mobile Pflege nicht nach allen Möglichkeiten unterstützt wird? Zum Beispiel durch Care-Stellplätze. Speziell markierte Stellplätze (vergleichbar mit "Behinderten-Parkplätzen") direkt bei den Wohnungen von pflegebedürftigen Menschen und in dicht besiedelten Wohngebieten, reserviert für Pflege- bzw. Hilfsdienste. Lange Parkplatzsuche würde es nicht mehr geben und die gesparte Zeit und Kraft käme den Pflegebedürftigen zugute.
Auch, dass die Hitzesommer jedes Jahr Tote unter den alten Menschen fordern, kümmert die Politik scheinbar nicht wirklich. Ansonsten würden Pflegeheime und Krankenhäuser schon längst mit geeigneten Beschattungs- und Kühlanlagen ausgestattet sein. Auch das Pflegepersonal könnte man von heute auf morgen entlasten, indem die Finanzierung von geeigneten Pflegehilfsmitteln zur Entlastung im Pflegealltag übernommen wird. Und natürlich könnte man auch die pflegenden Angehörigen zu Hause mit guten Pflegehilfsmitteln entlasten. Diese gute Ausrüstung würde noch immer weniger kosten als ein Heimplatz.
Pflegefachkräfte an den Verhandlungstisch
Wer auch immer es ernst meint mit der Entlastung der pflegenden Angehörigen darf nicht mehr die Partikularinteressen einzelner, teilweise mächtiger Kammern und Vereinigungen vertreten, sondern muss kompromisslos und entschlossen den Aufbau einer suffizienten, effizienten und menschenorientierten Versorgung angehen. "An den Verhandlungstisch gehört endlich auch die Berufsgruppe, die sich trotz aller Widrigkeiten in den letzten Jahrzehnten immer weiter spezialisiert hat und die notwendige Expertise mitbringt: Die Pflege. Nur diese ist auch in der Lage, die Interessen der pflegenden Angehörigen und der Pflegebedürftigen mit zu vertreten", so Pühringer.
Medienberichte
Anlässlich des gestrigen 3. Nationalen Aktionstags für pflegende Kinder und Jugendliche machte das Sozialministerium erneut auf die oft unterschätzte Thematik aufmerksam.
24.11.2023, OÖN, print:
30.11.2023, OÖN, Pflegende Angehörige: "Wir brauchen Solidarität, kein Mitleid" - "Manchmal weiß ich nicht, wo mein eigenes Leben bleibt. Aber es ist schön, dass meine Mama daheim sein kann. Wir brauchen Solidarität, kein Mitleid."
Autor:innen: Lorenz, Renate
13.11.2023
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